(TW Gewicht Mutterschaft Älterwerden)
Das ist ein Geburtstagstext. Heute werde ich 38 Jahre alt. Diesen Text habe ich gestern Nachmittag in einer ruhigen halben Stunde begonnen zu schreiben, am Abend heimlich ein paar Zeilen hinzugefügt und schreibe ihn fast fertig, während das Kind mit seinem Vater und seiner Oma am Spielplatz ist. Die Zeit habe ich heute auch dafür genutzt, das Geburtstagslied zu hören, nämlich „Six feet under“ von No Doubt, das ich höre, seit ich vierzehn bin, No Doubt, von denen ich mit 10 zuerst gehört habe und die eine meiner „Lieblingsband“ waren für längere Zeit, wie es so ist mit Bands, die man gern hat, die kaum jemand anderer in der Schulklasse hört und bei denen man sich einbildet, man wäre allein durchs Hören etwas Besonderes. Aber das Lied, die Tradition, es jedes Jahr zu hören, macht es zu meinem kleinen Schneckenabdruck im Stein meines Lebens. Die Kommentare unter dem Lied auf Youtube sind voll von Leuten, die das genauso wie ich handhaben. Mittlerweile mischen sich darunter auch schon Kommentare wie „Mein Vater hört dieses Lied, seit er vierzehn war, seit es damals vor tausend Jahren herauskam, jedes Jahr zu seinem Geburtstag“. Ein Glück, kann das Kind noch nicht tippen und ich bin noch nicht so alt.
Ich bin auf die beste Art erschöpft, die man in meinem Alter sein kann: ich bin zu dick, von der vielen Schokolade, die ich gegen Schlafmangel in den letzten 2,5 Jahren gegessen habe. Ich muss seit Tagen immer neue Geschichten erfinden von einem Zauberer, der pupst. Er hat gewaltige Blähungen und pupst in allen Lebenssituationen. Manchmal betreibt er einen Eissalon und verkauft dort Pupseis, Kakaeis, Nacktschneckeneis und Rotzglockeneis. Wenn man das Kind fragen würde, würde der Pupszauberer an guten Tagen Sonneneis verkaufen, das nach „heller Kokosnuss und Zitrone“ schmeckt.
Ich bin bis auf die Knochen erschöpft, aber ich schreibe jeden Tag, irgendwo gibt es selbst an schlimmen Tagen fünf Minuten. Im Rückblick, das ist etwas, was man auch erst lernen muss und was wirklich, wirklich alle Eltern bestätigen, im Rückblick hatte man früher (trotz mehrerer Jobs, Studien, ausgewaschener Depression und manchmal absolut paralysierender Panikstörung) so verdammt viel, so obszön viel Zeit. Warum hat man nicht die tausend Romane geschrieben, die man jetzt mit all dieser Zeit schreiben könnte. Es ist die Undankbarkeit der kopfschmerzlosen Tage, die unfühlbare Freiheit der Unverkühlung, es ist das Privileg, das man nicht spürt, weil man von Kopf bis Fuß drin steckt. Jetzt kann ich bald einen Ratgeber schreiben, wie man in nur fünf Minuten am Tag einen Roman in 1,5 Jahren schreibt und vermutlich würde ich diesen Ratgeber eher verkaufen können als den Roman (aber das ist ein Thema für ein anderes Mal).
Ich bin gute 38 gerade, ich habe eine Zukunft, ich habe sogar zwei Zukünfte, meine und die des Kindes. Ich habe viel zu tun. Ich habe (und das ist wirklich sehr cool) einen sicheren Job, der mittlerweile ein sogar in der reduzierten Elternteilzeit ganz okayes Gehalt ergibt.
Die Ängste bewahre ich mir auf für die kommenden Jahre. Die Ängste um die Welt, die ich so gut ausblenden kann, weil die mir nahen Welten gerade so riesig sind. Das ist das Privileg, dass ich mich von allen so nahen Angelegenheiten so einlullen und erschöpfen lassen kann und schwelgen in einer Erschöpfung, die vergeht, die nicht viel Schaden anrichtet, die harmlos ist und in der Erinnerung wahrscheinlich sogar wunderschön.
Ich bin aber auch 38 und wundere mich immer mehr über Sachen und sorge mich über Sachen, von denen ich dachte, dass ich sie mir für immer fernhalten kann. Ich werde dicker und älter. Ich denke darüber nach, wieviele Minuten mehr ich am Roman schreiben könnte, würde ich mich nicht ständig im Profil vor dem Spiegel anschauen, ob mein Bauch wirklich so dick aussieht, wie ich denke, dass er es tut. Ich weiß, das habe ich ein paar Jahre wirklich hart gelernt, dass man nicht glücklicher wird, wenn man abnimmt und diese Erkenntnis meiner frühen 20er Jahre rettet mir vielleicht jetzt meinen Hintern. Ich bin dick geworden, aber ich schreibe und das ist mir lieber als andersrum.
Die große Sorge, die ich habe, betrifft gar nicht meinen Körper: der verändert sich (bislang) so langsam, dass ich es akzeptieren kann, irgendwie. Falten, Schwerkraft, Beckenboden (Jesus Christus), immer weniger eigene Zähne, immer mehr Schmerzen, weniger Beweglichkeit, das beginnt ja schon früh und geht immer so weiter. Dass mein Körper verfällt: geschenkt. Angst habe ich davor, dass mir irgendwann keine Zukunft zum Tagträumen mehr bleibt:
Mein Leben lang habe ich durch Tagträume überlebt, die sich immer nur so ein bis drei Jahre in die Zukunft erstrecken und in denen ich eine bessere Version meiner selbst ausprobieren kann: eine, die Romane fertig schreibt, die fertig studiert, die Erfolg hat, die Preise gewinnt, die sich verliebt, die ein Kind bekommt. Tagträume sind klein, handlich und komplett steuerbar. Manche funktionieren besser als andere. Jahrelang, wirklich jahrelang, habe ich vom Bachmannpreis getagträumt. Das hat die paar Wochen nach dem Bachmannpreis wirklich schwierig gemacht, weil ich ein komplett leergeschüttelter Kompass war, der sich erst wieder einen neuen Traumpol suchen musste.
Mit dem Tagträumen habe ich als kleines Kind schon begonnen: zuerst träumte ich mir andere Eltern, dann träumte ich mir eine verlorene Zwillingsschwester zurück, ich träumte mir Freunde, ich träumte mich anders, ich träumte mir Anerkennung, ich träumte mich beim Weglaufen und beim endlich Erwachsenwerden. Ich träumte mich an die Universität, nach Frankreich, in neue Kleidung, in die Nächte. Und als ich dann wirklich erwachsen wurde, dann träumte ich mich immer besser erwachsen.
Tagträumen hilft. Wenn alles furchtbar zach ist, wenn man nicht weiß, wann alles wieder gut wird, wenn man nur noch erschöpft im Bett liegen kann oder wenn man gerade schwere Sachen trägt, Einkäufe, ein Kind, sich selbst und jeder Meter der Straße sonst dreimal so lang wäre.
In meinen Tagträumen war ich bislang immer in der Zukunft schöner, dünner (ja, sorry), disziplinierter und beeindruckender als ich es bin. Je älter ich werde, desto schwieriger ist es, mir das vorzustellen. Ich konzentriere meine Tagträume jetzt auf die Literatur oder darauf, dass ich vielleicht doch eines Tages mein Studium abschließe. Ich kann mich allerdings immer weniger belügen und belügen ist etwas, das fürs Tagträumen essentiell ist. Vor ein paar Jahren las ich im Internet über „maladaptive daydreaming“ (https://en.wikipedia.org/wiki/Maladaptive_daydreaming) und seither verfolgt es mich als Fußnote in den Tagträumen. Ich darf also nicht tagträumen: es ist eine Flucht aus der Welt, am Ende ist es eine trauma response, am Ende ist es das Falsche. Am Ende mache ich mir mit Tagträumen das kaputt, von dem ich tagträume. Irgendwo las ich auch, jemand, der von Erfolgen tagträume, erreiche diese weniger leicht, weil er ja die Belohnung schon im Tagtraum bekommen hätte und sich in der Realität weniger anstrengen würde. (Das ist bei mir wenigstens andersrum. Hätte ich nicht jahrelang vom Bachmannpreis geträumt zB, dann hätte ich mich dort gar nicht erst beworben.)
Die zweite Sache, die Tagträumen mittlerweile schon schwieriger gemacht hat, ist die Frage der Vereinbarkeit. Das sagt einem auch niemand vorher, aber wenn man ein Kind bekommt, muss man es nicht nur in der Wirklichkeit betreut wissen, sondern auch in den Tagträumen. Immer, in jedem Tagtraum, stelle ich mir jetzt die Frage: wo ist das Kind? Ist es Teil vom Tagtraum, was macht es, wie betreue ich es, wie fügt sich die Betreuung in mein Tagtraumselbst? Es ist ein bisschen schwierig, sich eine idealisierte Version von sich selbst vorzustellen, die dabei den halben Tag in den Unterarm furzt, weil sie Geschichten vom pupsenden Zauberer erzählen muss. Sorry, Kind, aber wenn ein pupsender Zauberer in meine Tagträume darf, dann nur als Anekdote, dass ich diesen Roman trotz pupsender Zauberer fertiggeschrieben habe (und er verdammt gut ist, natürlich). Wenn also das Kind im Tagtraum nicht bei mir ist, muss es woanders sein und ich kann erst so richtig tagträumen, wenn ich weiß, dass das Kind dort auch gut aufgehoben ist.
(Natürlich ist all das auch Indiz dafür, wie archaisch unappetitlich gesellschaftlich genormt meine Tagträume sind: der Traum ist, das Kind zu bekommen, nicht, es zu betreuen; der Traum ist, den Schönheitsnormen zu entsprechen, der Traum ist, Scheitern nicht als schönen Irrweg an sich, sondern immer nur als Herausforderung am Weg zum Erfolg (der kommt, wenn man sich nur genug anstrengt) zu erzählen.
Die Angst, die aufkommt, ist die, dass mir die Tagträume ausgehen werden: irgendwann bin ich zu desillusioniert, um mich noch in die Zukunft schöner, agiler, besser, klüger träumen zu können, weil ich weiß, dass ich es nie geworden bin. Mir bleibt nur noch tagzuträumen, dass ich als wütende alte Frau Alltagsintrigen schmiede, Beine stelle, alle beschimpfe und endlich wieder eine Zigarette rauche. Oder, und das ist wahrscheinlicher, ich werde mir irgendwann das Tagträumen abgewöhnen. Und dann, gnade dir Gott liebe Welt, werde ich wirklich sehr wütend sein und viele, viele Zigaretten rauchen müssen.
Herzlichen Glückwunsch und alles Liebe!
ein toller text! ich habe auch so einen spleen, ich schreibe mir kurzbiographien über mich selbst und dabei bin ich schon beim wütend sein und viele, viele zigaretten rauchen angekommen. die schönsten momente, in meiner doch eher von unglück geprägten situation momentan sind, wenn ich mir mal wieder einen neuen lebens- oder karriereweg erfunden habe. einerseits ist es hoffnungslos desillusioniert, andererseits, sind auch meine träume, zur sicherheit, immer um realitätsnähe bemüht. wusstest du dass man mit 50 noch als professor*in verbeamtet werden kann?? ich wünsche dir noch viele jahre voller tagträume! alles liebe!