Über das Jahr 2024
Es ist (subjektiv) sehr viel zu tun gewesen dieses Jahr und (objektiv) sehr wenig passiert, aber bevor ich den richtigen Moment verpasse und 2024 nur noch als Notiz in meine iCloud verschwindet, hier eine Art Jahresrückblick:
Ich habe im Februar wieder im Büro zu arbeiten begonnen und bin angenehm überrascht, wie viel besser manche Sachen in der Universitätsadministration mittlerweile funktionieren. Die ersten paar Wochen hat mich der neue Alltag ziemlich überrollt und ich war so müde, mittlerweile ist es aber wirklich sehr ok. Wenn mich wer fragen würde, ob ich neben Arbeit und Kind noch Zeit habe, müsste ich sagen: Um Gottes Willen nein – aber eine Sache, die man mit der Mutterschaft geschenkt bekommt, ist eine andere Wahrnehmung der Zeit. Es gibt immer Zeit. Und wenn es einmal 3 Minuten sind und einmal 10. Manchmal eine halbe Stunde gar! Und ja, man kann mit dieser Zeit einen Roman schreiben. Vor allem wenn der Kopf dann noch ein bisschen durchdreht und immer zu einem Teil in einem anderen Universum steckt. Deswegen habe ich einen geschrieben. Und noch andere angefangen. Und überhaupt mehr geschrieben. Generell sehr, sehr, sehr viel geschrieben. Ich habe mich zusammengerissen und mich für Stipendien und Wettbewerbe beworben, nur ist absolut wirklich gar nichts passiert. Gar nichts. Es ist okay, ich probiere es weiter, aber stellenweise tat es dieses Jahr wirklich weh (wenn ich mich doch einmal richtig anstrenge!) und hat mich sehr viel in Frage stellen lassen. Gelernt habe ich, dass es immer, wirklich ausnahmslos immer hilft, darüber zu sprechen und mit anderen Personen, die ebenfalls leer ausgingen, zu lästern und zu jammern. (You know who you are <3)
Manche Sachen sind sehr klein und ich muss mir vor Augen halten, wie groß sie eigentlich sind. Natürlich, überleben, sowieso. Oder auch: mehr als 3,5 Jahre keine Zigaretten mehr geraucht zu haben. Oder: trotz großer Angst sehr viele (und leider sehr kostspielige) Zahnarztbesuche absolviert und trotz großer Abscheu mich an eine elektrische Zahnbürste getraut (weil ich sehr sensibel auf jedes Gefühl an den Zähnen reagiere, aber turns out, mit weicheren Bürstenköpfen und ein bisschen Gewöhnung ist es echt okay. Dafür lobe ich mich ab und zu einfach so, weil ich früher dachte, dass ich jemand bin, der das einfach nicht kann. Und manchmal benötigt man für einfache Sachen sehr viel Überwindung.)
Ich habe für 2024 einen einzigen „richtigen“ Vorsatz gehabt und der lautete, dass ich ältere Bücher und nicht nur Neuerscheinungen lesen wollte. (Nachdem ich 2023 praktisch ausschließlich Neuerscheinungen las.) Den Vorsatz habe ich erfüllt. Ich habe 2024 außerdem sehr viel Anna Mitgutsch (wieder)gelesen, weil ihr Schlüsselwerk (für mich ist es eindeutig ein solches!) „Unzustellbare Briefe“ erschien und eine der beiden Lesungen, die ich dieses Jahr besuchte, war ihre Lesung im Museumsquartier. Eigentlich ist aber natürlich jedes Jahr ein gutes Jahr, um Anna Mitgutsch zu lesen. Bitte lest also alle mehr Mitgutsch, ihr werdet es nicht bereuen!
Was ich dieses Jahr sonst noch erlebt habe:
das Nordlicht gesehen (vom Wohnzimmer aus, nachts, weil es so weit runter bis nach Wien kam, der rosa Schein)
nach Graz und Salzburg gereist (nicht weit, aber besser als gar nichts) (ja, ich vermisse Reisen)
das erste Mal seit 5 Jahren wieder ins Kino gegangen (Viennale! Nachmittags! Allein! Sehr Gut!)
mit der Jahreskarte sehr, sehr oft im Naturhistorischen Museum gewesen
endlich wieder auf Friedhöfen spaziert
mich in die Wunderkammer-Ausstellung im Künstlerhaus verliebt
mich in der Albertina Modern daran erinnert, warum ich Alfred Kubin so mag
sehr viele Schnecken beobachtet, sehr viel Knete zu Schnecken gewutzelt („das heißt nicht Plastilin!“), sehr viel Keksteig in Mindestzeit hergestellt um das Kind für eine Mindestzeit zu unterhalten, sehr viel staubgesaugt, sehr viel Spaghetti gekocht, sehr sehr viele Geschichten vorgelesen, sehr viel Homeoffice, sehr viele Äpfel geschält und sehr viel ganz besondere Mulchstücke geschenkt bekommen
Mini-Riesenrad am Christkindlmarkt gefahren (das Kind liebt es)
Eine riesengroße Änderung, die sich dieses Jahr ereignet hat, war, dass ich im Sommer versehentlich zu einem Formel 1 Fan wurde. Eigentlich las ich in dem einen Moment nur mal was zu Niki Lauda nach, plötzlich schwupps bumm. Man kann es nicht anders beschreiben. Es ist definitiv eins der schönen Sachen, die dieses Jahr passiert sind, weil es mir gezeigt hat, dass ich mich jederzeit für ein noch so langweilig scheinendes Thema von der einen Sekunde auf die andere plötzlich total entflammen kann. Und das ist ein Wissen, das wird mich definitiv durch meine zweite Lebenshälfte tragen. (Auch wenn ich mich ein bisschen sorge, WELCHES der momentan für mich stinklangweiligen Themen mich irgendwann entflammen wird – Kryptowährungen, Kriegsmarine, Makrobiotische Ernährung, Eishockey, die Evangelische Kirche? Wer weiß.)
Es hat jedenfalls dazu geführt, dass ich mich in Recherchen gestürzt habe, dass ich begonnen habe, darüber zu schreiben, jeden Tag über Autos nachzudenken, wieder ein Netflix-Abo einzugehen und mir einen Fixpunkt für 2025 in den Kalender einzutragen: der Österreichische Grand Prix im Juni (ja, sorry, Tage der deutschsprachigen Literatur, jetzt habt ihr eine Konkurrenzveranstaltung).
Wer mich auf meiner spirituellen Formel 1 Reise begleiten möchte und meine Gedanken, Fragen, Beschwerden, usw dazu lesen möchte, kann es hier tun:
Wie es so ist, wenn einen 1000 Dinge interessieren und 1000 Minuten dafür fehlen, ist sogar mein Laptop jetzt nur noch ein Sammelsurium kleiner Entwürfe, Absätze, Winzigstgeschichten, Anfänge von Substacks. Vor zwei Wochen schrieb ich diese kleine Momentaufnahme vom Chaos in meinem Kopf, das ich ins neue Jahr hinübernehme:
Roman Nummer 1 und 2 sind gerade in Arbeit und werden vielleicht mit etwas Glück gelesen.
Roman Nummer 3 schlummert seit Corona vor sich hin, weil es ein Pestroman ist.
Ich will gerade Roman Nummer 4 schreiben, dafür recherchieren und um Stipendien damit ansuchen.
Jetzt drängt sich Roman Nummer 5 auf, weil die Recherche dazu so spannend ist und er mit Roman Nummer 2 verbunden ist, in dessen Recherche ich langsam wieder eintauche.
In meinem Kopf hausen tausend Gespenster, fünfzig historische Figuren, dreihundert Ideen, mindestens zwei Länder voller Schauplätze und das Weltall, fast 500 Jahre Geschichte und ein Wassermann.
Es ist wieder eine Jahreszeit in meinem Leben, in dem ich alles gleichzeitig machen will und dabei keine Zeit habe, natürlich, es bedingt einander. Ich habe Solvejg Nitzkes Farnbuch gelesen, das absolut zauberhaft ist und möchte sofort alles zur botanischen Geschichte Wiens, zu den Gewächshäusern und zur Brautmyrte Maria Theresias herausfinden, herrgott, ich will die Brautmyrte besuchen, die am anderen Ende der Stadt wohnt. Ich möchte die Geschichte der Fensterbankgewächshäuser und die der privaten Aquarien vergleichen (Aquarien waren auch eine ziemlich viktorianische Geschichte und ich glaube, die beiden sind eng miteinander verknüpft), aber in Wirklichkeit möchte ich natürlich auch einfach durchdrehen und etwas über ein privates Fensterbankgewächshaus schreiben, das eigentlich eine Schlüsselhorrorgeschichte ist über die kleinen Babies in der Pflege des Kinderarztes Clemens Pirquet, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in kleine isolierte Glaskästen aus dem Fenster gehangen wurden, damit sie genug Sonnenlicht bekommen, aber gleichzeitig sich gegenseitig nicht anstecken. Ich möchte (schon wieder) über das erste Aquarium am Michaelerplatz, unweit der Gruft, schreiben und ich möchte immer wieder zu den Axolotln dieser Welt zurückkehren, ich möchte eigentlich nur vor den Vitrinen des Naturhistorischen Museums stehen und auf Fossilien starren, ich möchte das Licht über das alte Holz wandern sehen, ich möchte die Grimassen der ausgestopften Tiere nachmachen, ich möchte endlich einmal die Kurbel des Mammutknochenkompaktus drehen. Und natürlich möchte ich den AEIOU-Mammutknochen sehen, der beim Bau des Stephansdoms als Knochen eines Riesen ausgegraben und ans Tor gehängt wurde. Ich möchte, und das habe ich als fixe Idee jetzt auch dem Farnbuch zu verdanken, mich alle paar Schritte von Pflanzen unterbrechen lassen, ich möchte mir ansehen, wie sie in den Mauervorsprüngen lauern, ich möchte sie verwittern sehen, ich möchte mit ihnen mit Furcht die Rückkehr der Schnecken erwarten und den ersten Schnee, ich möchte im Farn hocken und schon wieder Orion sehen und mich vom Mond erwischen lassen, ich möchte im Bett bleiben und die tausend Bücher zu den Themen lesen, die mich interessieren und dann die tausend Geschichten schreiben, die sich in meinem Mund aufstauen, bis mich jemand kitzelt und ich alles ausspucken muss.