Eine Liste kleiner Anmerkungen zur weiteren Entwicklung im Fall Klemm
Eine lose Sammlung von persönlichen Notizen der letzten 12 Stunden
Sicherheitshalber noch einmal: das hier ist mein mauliger, persönlicher Substack. Es ist kein geschliffener Zeitungstext, es ist kein durchdachtes Essay, es sind lose Gedanken, die ich müde aufschreibe, nachdem das Kind eingeschlafen ist und ich von allem, was ich so sehe, aufgewühlt bin – und die ich weiter/fertigschreibe nach zu wenig Schlaf, weil mich der ganze Wirbel ordentlich wach hielt.
Anlass sind aktuell zwei Zeitungsartikel – in der Presse und im Standard – die mich auch namentlich als Stein des Anstoßes nennen.
Standard: https://www.derstandard.at/story/3000000273176/leykam-verlag-wirft-autorin-klemm-wegen-aussagen-zum-wort-frau-aus-buch?ref=niewidget
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Zuallererst:
Trans Frauen sind Frauen.
Unbedingt.
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1. Ja, wir müssen lernen, wieder zu diskutieren. Alle – auch ihr, die „oh Gott, der Internetmob cancelt Klemm!“-RuferInnen, gerade ihr. Ihr macht nämlich auch gerade das Gegenteil davon. Merkt ihr, oder?
2. Bitte lasst uns generell im Literaturbetrieb wieder diskutieren. Lasst uns wütende Leser*innenbriefe, Repliken, Glossen, whatever schreiben. Lasst uns die Werke unserer Kolleg*innen lesen und sie nicht einfach nur verteidigen, weil man ein Glaserl Wasser (man trinkt keinen Wein, weil man ist busy mit Output, wie mir verraten wurde) mit ihnen getrunken hat und sagt „oh, die XY, die ist ja so nett, warum wird sie gecancelt“. Lasst uns mehr lesen. Lasst uns hinterfragen, was wir lesen.
Lasst uns streiten! Ich habe einige Freundinnen und Bekannte, die in dieser Situation anderer Meinung sind als ich und ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Verbindungen das aushalten.
3. Noch einmal von vorne: Ich habe sehr viele Bücher von Gertraud Klemm gelesen, einige davon richtig inhaliert, aber beim letzten Buch „Einzeller“ bin ich sehr stutzig geworden. Meint sie das so? Wird die Figur gebrochen? Was ist hier los? Das hab ich mir gedacht. Die Artikel und Interviews, die Klemm danach geschrieben bzw. gegeben hat, haben mir allerdings den Eindruck vermittelt, dass diese Hauptfigur von Einzeller genau ihr Verständnis von Feminismus vertritt. (Und natürlich weist sie jetzt auf ihren Roman hin! Was wiederum die These selbst bestätigt – ihre und meine, witzigerweise.)
4. Wer spaltet? Spaltet die Feministin, die sagt: die Rechte von trans Menschen, nichtbinären Leuten, inter Personen sind im Feminismus nicht wichtig! - Oder spaltet die Frau, die sagt, hey, stopp, die Rechte dieser Personen sind im Feminismus extrem wichtig, denn sie tragen zu unserem Verständnis der Marginalisierung und zum Kampf gegen das Patriarchat bei!
5. Gerade jetzt, gerade zu dieser Zeit, wo in manchen Ländern die medizinische Versorgung von trans Menschen abgestellt wird, wo trans Menschen ihre Existenz abgesprochen wird, wo ihr Alltag schwierig gemacht wird, wo sie Gewalt mehr denn je ausgesetzt sind und die Zufluchten davor weniger und weniger werden, gerade jetzt, sollte man sich doch einfach mal zusammenreißen und sagen: trans Rechte sind ein wichtiger Bestandteil des Feminismus – lasst uns dafür kämpfen. Und nicht „ich bin nicht transfeindlich, aber“ sagen. Was leider sehr viele meiner Kolleginnen gerade machen.
6. Haben wir Gertraud Klemm missverstanden? Sind ihre Artikel aus 2022-23 wie z.B. in der Presse vermittelt wird, einfach schon „veraltet“? Wird es etwas anderes, weniger missverständliches zu lesen geben? Ist am Ende das Buch, das im Sommer bei Matthes & Seitz erscheint nicht eine lange Version ihrer Standardartikel? Wird sie sich da über binäre Einteilungen und cis Feminismus hinwegsetzen?
7. In einem der Standardessays schreibt Klemm über das binäre biologische System und warum sich der Mensch da rausnehmen möchte. Ich bin keine Biologin, Klemm schon, ich hinterfrage an der Stelle einmal nicht, was sie über Biologie schreibt, aber selbst wenn, selbst wenn, selbst wenn wir der Logik Klemms folgen, die fragt „mit welcher Rechtfertigung wird die Spezies Mensch aus der Evolution herausgelöst?“ - würde ich sagen: weil wir es können.
Wir Menschen können nämlich auch noch ganz viel Anderes, was nicht so recht in die Evolution passt. Wir können zum Beispiel in vollem Bewusstsein, absichtlich und genussvoll unsere Lebensgrundlage zerstören. Ich würd definitiv also den Menschen aus allem rausnehmen. (Natürlich ist die Logik erst recht fehlerhaft, aber für jemanden, der Frauen und Frauen unterscheidet, pocht Klemm ganz schön ordentlich darauf, dass wir alle Kaulquappen sind.) (No offense, Kaulquappen sind cool.)
8. Natürlich vermiss ich jetzt wissenschaftliche Grundlagen: gerne könnte ich jetzt mit Wissen aus der Biologie, aus der Archäologie, aus den Gender Studies Argumente kräftig untermauern. Kann ich halt nicht. Ich argumentier von einer ganz kleinen, einfachen Position aus: dass jeder Mensch die gleichen Chancen haben soll, ein gutes Leben zu leben. Und dass wir in einem System leben, das manchen Menschen von vornherein Chancen verwehrt. Und wir so vernünftig sein müssen, diese Chancengleichheit mit den uns möglichen Mitteln wieder herzustellen.
9. Es will in meinen Kopf nicht hinein, wie kritische Kommentare von bestimmten Personen „Hetze“ sind, wenn es mehr als zehn sind und irgendwem das nicht passt. Aber wenn es mehrere Zeitungsartikel, hunderte Facebookspostings, darunter mehrere von reichweitenstarken Journalisten, über 1000 Postings im Standardforum unter einem einzigen Artikel gibt, dann sind das notwendige Solidaritätsbekundungen. Es ist so eine einfache Mathematik, eigentlich. Ich verstehe das ganze genausowenig, wie ich nicht verstehen will, dass man 1 Person in Schutz nimmt und dafür Hunderte unter den Bus wirft.
10. Das schreiben eh gerade viele andere auch, aber: wie bitte ist jemand gecancelt, der ein Buch über seine Ansicht des Feminismus schreiben darf, der jetzt Plattformen in allen großen Medien bekommt und geteilt wird von den reichweitenstärksten Personen des Landes? Wenn das Canceln ist, cancelt mich bitte auch, sobald mein Debütroman erscheint!
11. Noch einmal zum „Canceln“ - ich bin normalerweise der Meinung, dass viel Kritik an unguten Texten und Personen zuviel Aufmerksamkeit genau dorthin lenkt. Ich hab oft schon einen Wunsch geäußert, der jetzt auf diese seltsame Art und Weise in Erfüllung geht, denn: ich habe mir gewunschen, dass mal gute Autorinnen gecancelt werden. Damit sie endlich gelesen werden. Da die letzten Texte von Klemm fragwürdigen Inhalts sind und ich diese nicht empfehlen kann, bitte besser mit den früheren Werken beginnen.
12. Und, doch, ich vermisse Diskurs, Debatte, Diskussion, Horizonterweiterung, wie immer man es nennt. Ich wünschte, es gäbe jetzt Plattform für wichtige Texte von Menschen, die nicht in dya cis Kategorien fallen. Ich wünschte es gäbe Plattform für aktuelle Ideen des Feminismus ohne dass sofort jeder Satz, der aus dieser Richtung kommt mit „PFUI WOKE TOTALITÄR BLA“ abgeblockt würde.
Ich wünschte, es würde dazu führen, dass wir uns im österreichischen Literaturbetrieb auf einen nichtdiskriminierenden Konsens einigen, der trans, nichtbinären und inter Autor*innen das Gefühl gibt, dazuzugehören und sicher zu sein.
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Vielen Dank für deine Gedanken und deine Solidarität. Wenn reichtweitenstarke PublizistInnen (hier passt das Binnen-I besser lol) Umstände und Verhältnisse umkehren, um sich als Opfer darzustellen, sobald es ein wenig Kritik gibt, statt sich damit auseinanderzusetzen, ist das einfach nur erbärmlich. Wobei es an der Existenz und dem Recht auf Leben, Gesundheit und Ruhe von trans Menschen auch nix zu diskutieren geben sollte, aber 2025 hat schon seinen eigenen Charme...
❤️! Danke für die Ausführungen, ich finde, dass Du sehr klar formulierst, was Deine Positionen sind und wie Du sie entwickelt hast. Und ich wünsche Dir und uns allen sehr, dass Deine Kommentare mit der gleichen Zuwendung und Genauigkeit gelesen werden, die Du den genannten Romanen und Essays entgegenbringst.